«Die Frage ist doch, gibt man die Verantwortung in einem partizipativen Prozess ab?»

Teilen

Wir trafen Bettina Stefanini, die Stiftungsratspräsidentin der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG) zum Gespräch. Es ging um Aufbruch und Teilhabe, um den Start des ersten Kultur Komitees in Winterthur, um Pollen und um kurze Wege. Ein Gespräch mit auffallend vielen Fragestellungen. Bettina Stefanini gehört dem Beirat von Demokratie und Migration an. Gespräch in zwei Folgen von Brit Hartmann

SKKG-Stiftungsratspräsidentin Bettina Stefanini, Foto: Vera Markus
SKKG-Stiftungsratspräsidentin Bettina Stefanini, Foto: Vera Markus

Folge 1

Wir haben etwas gemeinsam: Berlin 1989.

Ah!

Ich habe gehört, dass Sie 1989 nach Berlin kamen mit einer Bassgeige und einer Nähmaschine im Gepäck und begeistert waren und mitgerissen wurden von der Aufbruchstimmung. Nun ist Ihr Gepäck deutlich umfänglicher. Ist die SKKG jetzt auch im Aufbruch?

Auf jeden Fall. Also wir stellen uns immer wieder die Frage: sind wir immer noch tief in der Startphase, also in dieser Phase, die 2018 mit der Besetzung des neuen Stiftungsrates begonnen hat. Das ganze Ausmass der Themen wurde ja erst mit der Zeit sichtbar. Ich bin mir noch nicht klar, wo genau wir da stehen in dem Prozess. Schaue ich nach vorne, sehe ich immer noch sehr viel, dass angegangen werden und bewältigt werden muss. Drehe ich mich um, blicke zurück woher wir kommen, dann sind wir mit der Stiftung schon eine grosse Strecke gegangen. Wir sind also mittendrin.

Partizipation ist ein wichtiger Bestandteil Ihrer Stiftungsarbeit. Entscheidungsmacht abgeben klingt verlockend, aber bedeutet das nicht auch Verzicht auf Sachverstand?

Diese Bedenken kann ich gut nachvollziehen. Es ist aber nicht nur eine Machtteilung, es ist auch eine Verantwortungsteilung. Da liegt der Hase im Pfeffer. Kann man sich der Verantwortung entledigen, indem man partizipativ ist? Oder hat man sich der Verantwortung entzogen, indem man sich auf Experten verlässt? Liegt die Verantwortung immer noch bei einem selbst? Macht und Verantwortung, beide sind Teil der Partizipation.

Zum Beispiel Kultur Komitee Winterthur. Anfang Oktober schrieb die Stadtverwaltung an 200 ausgeloste Einwohner:innen Einladungsbriefe für ein partizipatives Förderungsprojekt. Das so zufällig zusammengestellte Vergabegremium darf 2022 mit Geldern der SKKG Kulturprojekte aus und für Winterthur fördern.

Die Stadt hat da den Zufallsgenerator angeschaltet.

Gibt dieses Losverfahren ein echtes Abbild der Bevölkerung oder brauchen Minderheiten Quoten? Gewünscht sind zwölf Personen für das Kultur Komitee Winterthur. Wer wählt dann aus?

In meinem früheren Leben war ich Naturwissenschaftlerin und habe Pollen gezählt. Jeweils 400 unter dem Mikroskop bestimmte Körner ergaben eine statistische Grösse, bei der man davon ausgehen konnte, dass auch seltene Vertreter in der allgemeinen Population erfasst werden. Bei Pollen ist die Verteilung vielleicht ähnlich wie bei Menschen. Ich halte 200 Lose für Winterthur repräsentativ.  Und jetzt kommt die andere Frage: von 200 auf eine kleine Gruppe von selbsterlesenen Akteuren.  Das ist dann nicht mehr das Zufallsprinzip. Bei solchen Prozessen geht man davon aus, dass circa 4% dieser Angeschriebenen Lust und Zeit und Möglichkeiten haben, sich an solch einem Prozess überhaupt zu beteiligen. Das heisst hier sind wir selektiv von der Motivation der Ausgewählten her.

Ist Motivation nicht zu kurzgefasst?

Die Angeschriebenen müssen in der Lage sein, sich den Prozess vorstellen zu können, den Brief verstehen können. Was heisst das genau? Was sind die Erwartungen an mich? Sie müssen in der Lage sein, sich die Zeit leisten zu können. An dieser Stelle ist die Wahrscheinlichkeit, dass das kein repräsentatives Bevölkerungsabbild ist, natürlich viel grösser als beim Losverfahren. Wir kennen das Ergebnis. Die Teilnehmer:innen sind gefunden. In Winterthur sind wir auf ein sehr grosses Mass an Enthusiasmus gestossen mit dieser Aktion. 25 Personen haben sich gemeldet, also 12.5%.

Diese 25 Personen werden nun darüber entscheiden, was förderungswert ist und was nicht? Das ist keine Fachberatung wie in einem Bürgergremium.

Nein, hier muss man herausfinden: Was ist Kultur? Und was ist der Unterschied zwischen förderungswürdiger Kultur und nicht förderungswürdiger Kultur? Und, wo trägt mich meine Emotionalität hin? Solche Entscheidungen haben immer eine grosse Emotionalität.

Nicht so schön formuliert, würde ich es geschmäcklerisch nennen.

Ja.

Gefällt mir oder gefällt mir nicht, als Kriterium?

Neurologen, Psychologen sagen, dass wir alle Entscheidungen emotional fällen. Und dass wir diese nackten Entscheidungen in einem sekundären Schritt einkleiden in Argumente. Auch Fachexperten treffen emotionale Entscheide. Ein anderer Punkt, der mich ebenso fasziniert ist, wie wir als Gruppe urteilen. Anonyme Entscheidungen sehen komplett anders aus als solche, die in der Gruppe gefunden werden, in der ich zum Beispiel auf einer Seite anfange und mich durch die Runde diskutiere. Eine Gruppe formt sofort eine Dynamik. Wer ist meinungsangebend? Wie stark werden wir davon beeinflusst, wer neben uns sitzt, in welcher Arbeitsgruppe wir aktiv sind? Die Jagd nach dem wirklich Repräsentativen in der menschlichen Gesellschaft ist wohl eine abenteuerlichere, als wir uns vorstellen.

Wird dieser ganze Prozess wissenschaftlich begleitet?

Wir lassen das Projekt Kultur Komitee von der Universität Bern evaluieren.

Folge 2 folgt in einer Woche.